Welche Erfahrungen machen russischsprechende Menschen in Deutschland? Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf ihre Identität und ihren Alltag aus? Wie sprechen sie mit nahestehenden Personen über schmerzhafte und kontroverse Themen? Über diese und weitere Fragen tauschen sich in Deutschland lebende russischsprechende Menschen in den vielfältigen Angeboten des Projekts "Zug um Zug Demokratie" aus. "Themen wie die Rolle der Frau, Diskriminierung, Identität, Fluchterfahrung, Integration, Kolonialismus und Queersein beschäftigen die Projektteilnehmenden dabei am meisten", berichtet Sergey Savchuk, welcher das seit 2023 bestehende Projekt leitet.
Austausch gegensätzlicher Ansichten
Das Projekt arbeitet dafür vielfach mit theaterpädagogischen Methoden, welche die Teilnehmenden anregen sollen, miteinander ins Gespräch zu kommen, Meinungen auszutauschen und unterschiedliche Positionen zu diskutieren. Ziel dieser Methoden ist dabei immer, auch über schwierige Themen wie die Polarisierung der Gesellschaft zu sprechen und eine gemeinsame Basis für Menschen mit gegensätzlichen Ansichten zu finden. Gleichzeitig sollen durch den Dialog bestehende Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden.
Die Angebote des Projekts richten sich an neu Zugezogene aus Russland, Belarus, an geflüchtete Menschen aus der Ukraine und an russischsprechende Menschen, die schon länger in Deutschland leben oder hier geboren sind. Mithilfe eines vielfältigen Methodenmixes, der von der Barcamp-Methode über Science Slam zum Thema Diskriminierung bis hin zu Improvisationstheater reicht, baut das Projekt Brücken zwischen den unterschiedlichen Ansichten der Teilnehmenden und bringt sie zusammen.
Persönliche Geschichten des Publikums regen zum Dialog an
Eine dieser Methoden ist das Playback-Theater. Hierbei handelt es sich um eine Form des Improvisationstheaters, bei der das Publikum Geschichten aus seinem Leben erzählt und die Schauspielerinnen und Schauspieler diese sofort auf der Bühne durch Bewegung, Sprache und Melodie in kleinen Szenen umsetzen. Das gemeinsame Erlebnis von unterschiedlichen persönlichen Geschichten soll dabei zum Dialog anregen. "Jede Aufführung hat einen thematischen Vektor, man weiß aber nie, wo es am Ende hingeht", erzählt Sergey Savchuk.
Die Aufführungen können sehr emotional werden – mit Lachen und Tränen, verbindend und wichtig für alle Teilnehmenden. So berichtet eine Teilnehmerin des Playback-Theaterstücks "Between" von ihren Erlebnissen: "Es gelang mir, die Geschichten der anderen auf eine besondere Art und Weise zu hören, ohne zu urteilen, sondern mit Verständnis und Akzeptanz. Das ist heutzutage so selten. Es scheint, als müsse man diskutieren, als müsse man seinen Standpunkt beweisen. Aber es stellte sich heraus, dass es wichtiger ist, der anderen Person einfach zuzuhören."
Geschichten der Schauspielerinnen und Schauspieler bauen Brücken
Persönliche Erlebnisse stehen auch bei einer weiteren Methode im Mittelpunkt. Die Performance "THE RUN refugee rave" ist ein Potpourri von persönlichen Kurzgeschichten der Schauspielerinnen und Schauspieler, die anders als beim Improvisationstheater künstlerisch vorbereitet sind. Sie berichten darin über ihre Reise, Krieg, Identität, Akzeptanz und von ihrer Auswanderung.
Im Anschluss an die Performance gibt es eine Fragerunde mit den Schauspielerinnen und Schauspielern sowie kurze Diskussionen in Kleingruppen zu Themen wie: Was gibt euch Kraft in Zeiten der Not? In diesen vertraulichen Gesprächen können die Teilnehmenden die Haltungen und Ansichten von Menschen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten hören. Sie können einen Perspektivwechsel einnehmen und versuchen zu verstehen, wie diese die Welt um sich herum sehen und erleben. So wird ein Verständnis dafür geschaffen, wie Menschen mit und ohne Einwanderungserfahrung unterschiedliche Ansichten zum selben Thema haben können.
Die Arbeit mit theaterpädagogischen Methoden schafft neue Räume zum Austausch schwieriger Themen und gegensätzlicher Ansichten. Gleichzeitig ermöglichen sie teils sehr unterschiedlichen Menschen das Erleben von Vielfalt und ein gemeinsames Miteinander auf der Bühne, und dies wirkt bis in ihren Alltag hinein.
Veröffentlicht im März 2024
Dieser Beitrag ist Bestandteil des Themenmonats "Perspektivwechsel".