Erneut bleibt die Wohnungssuche erfolglos – die Miete im Wunschbezirk ist zu hoch, verfügbare Wohnungen entsprechen nicht den eigenen Bedürfnissen und eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Vor allem Familien und junge Menschen sind von der Krise des Wohnungsmarkts betroffen und der Wohnraum wird immer knapper. Protest dagegen regt sich immer lauter. Doch wie kann dieser aussehen? Welche Form befindet sich im demokratischen Rahmen?
Diesen und weiteren spannenden Fragen können Jugendliche und junge Erwachsene im Planspiel "Alte Linde" und im Nachfolger "Alte Linde – Die Bezirkskonferenz" experimentell nachgehen und dabei die politische und gesellschaftliche Konfliktsituation interaktiv erleben sowie die eigene Selbstwirksamkeit testen. "Demokratie leben!" hat mit dem Team der Bundesfachstelle Linke Militanz am Institut für Demokratieforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, welches in Zusammenarbeit mit dem CIVIC Institut für internationale Bildung das Planspiel entwickelt hat, gesprochen, um mehr über die Methode zu erfahren.
Worin liegen die Vorteile der Planspiel-Methode?
So ein Planspiel ist eine interaktive didaktische Methode, die sich an Handlungen, Teilnehmenden, Problemen, Konflikten und Prozessen orientiert. Durch sie werden für die Teilnehmenden sowohl politische Interessen- und Meinungsvielfalt als auch politische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse unmittelbar erfahrbar. Zudem ermöglicht sie den Lernenden ein selbständiges Handeln und gibt ihnen die Gelegenheit, Zusammenhänge und Strukturen politischer Prozesse zu erkennen. Dadurch wird auch deren Relevanz für das eigene Alltagsgeschehen erfahrbar.
Außerdem ermöglicht der modellhafte Charakter eines Planspiels ein sicheres Ausprobieren von Fähigkeiten und Wissen, insbesondere bei der Behandlung von sensiblen, polarisierenden, gesellschaftlich und politisch relevanten Prozessen und Themen. Diese können, wie in unserem Fall, Radikalisierung, Protest oder ziviler Ungehorsam sein. Die Teilnahme an einem Planspiel fordert die Lernenden dazu auf, sich mit den Folgen des eigenen Entscheidens und Handelns auseinanderzusetzen.
Wie sind Sie bei der Erstellung vorgegangen?
Wir haben das Planspiel in Kooperation mit dem CIVIC Institut für internationale Bildung für die Zielgruppe Schülerinnen und Schüler ab der neunten Klassenstufe entwickelt. Die Themen Gentrifizierung und politischer Protest stehen dabei im Fokus und können anhand eines Fallbeispiels kennengelernt und konkret diskutiert werden. Wohnraumpolitik ist ein sehr relevanter und hochaktueller Gegenstand politischer Bildung, da dieses Thema einen direkten Bezug zu den existenziellen Bedürfnissen von Menschen hat und gleichzeitig konflikthaft ist. Zudem gibt es ein öffentlichkeitswirksames Protestgeschehen in Deutschland, insbesondere in Großstädten.
Bei dem Thema können sich die Teilnehmenden mit gesellschaftlichen und politischen Konflikten und ihrer Pluralität von Interessen und Weltanschauungen auseinandersetzen. Gleichzeitig kann ihnen das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Grundrechten veranschaulicht werden, zudem können sie Partizipations- und Protestformen anhand der Kriterien Legalität, Legitimität und Effizienz betrachten. An konkreten Fällen können generelle Konfliktstrukturen und die Vielfalt an existenten Protestformen veranschaulicht und reflektiert werden.
"Die Teilnahme an einem Planspiel fordert die Lernenden dazu auf, sich mit den Folgen des eigenen Entscheidens und Handelns auseinanderzusetzen."
Team der Bundesfachstelle Linke Militanz
Was sind notwendige Rahmenbedingungen für die Durchführung?
Das Planspiel muss von einer pädagogischen Fachkraft vorbereitet, an die Lerngruppe angepasst und angeleitet werden. Vorkenntnisse im Themenfeld sind zwar keine Voraussetzung, um am Spiel teilnehmen zu können, helfen aber bei einer Diskussion und können diese verbessern.
Von elementarer Bedeutung ist die Bereitschaft, eine Rolle und Perspektive anzunehmen, die eventuell nicht der persönlichen entspricht oder dieser gar widerspricht. Nur so kann das Planspiel auf spiellogischer Ebene gelingen, das Szenario lebendig werden. Nur so können insbesondere die gewünschten Lerneffekte wie Perspektivübernahme, Selbstwirksamkeit und Entscheidungskompetenz erreicht werden. Außerdem ist ein bestimmtes Maß an Leseverständnis wichtig; für Teilnehmende mit eingeschränktem Leseverständnis aufgrund von Sprachbarrieren ist das Planspiel eine besondere Herausforderung.
Welche Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Fachkräfte melden zurück, dass das Planspiel eine Möglichkeit bietet, um mit jugendlichen Lerngruppen über Anti-Gentrifizierung als politisches Aktionsfeld der radikalen Linken sowie im Nachgang über das Thema linke Militanz zu sprechen. Weiterhin wurde zurückgemeldet, dass Material, Thema und Szenario geeignet sind, das Planspiel an die Lerngruppe und den Kontext anzupassen, aufzubereiten und eventuell zu verändern.
Sie bestätigen unsere Beobachtung, dass Planspiele und andere Lehrmaterialien, die politischen Protest oder das Thema Wohnraumkonflikte und linken Radikalismus fokussieren, bislang kaum vorliegen.
Wo stößt ein Planspiel an seine Grenzen?
Auch wenn die Themen Gentrifizierung und politischer Protest im Planspiel anhand eines Fallbeispiels kennengelernt und konkret diskutiert werden können, steht die Vermittlung objektiven Wissens bei unserem Planspiel nicht im Vordergrund. Die Teilnehmenden erhalten per Losverfahren eine Rollenkarte, wobei ihnen die Positionen in der Debatte oftmals neu sind. An seine Grenzen stößt das Planspiel, wenn dieses nicht an die Lerngruppe angepasst wird. Die Lerngruppe oder einzelne Teilnehmende, denen besondere Rollen zukommen, können so von Über- oder Unterforderung betroffen sein.
Wird aufgrund des Vorbereitungs- und Organisationsaufwands, den das Planspiel voraussetzt, auf die Auswertungsphase verzichtet, kann dies dazu führen, dass der Transfer vom fiktiven Szenario in die politische Realität nicht gelingt. Die Phase ermöglicht ja erst den Transfer der Lernerfahrungen in den realen Kontext sowie in das Alltagsgeschehen der Teilnehmenden.
Welche Tipps können Sie anderen geben, die ein Planspiel erstellen möchten?
Bei der Entwicklung unseres Planspiels wurde es wiederholt mit der Zielgruppe erprobt und begleitend evaluiert. Ziel war es, Effekte auf politische Kenntnisse, Motivationen und Einstellungen von Teilnehmenden systematisch zu untersuchen. So war eine evidenzbasierte Weiterentwicklung des Planspielkonzeptes möglich. Zugleich konnten wir schauen, ob das Konzept auf spiellogischer Ebene funktioniert, um Logikfehler und Unstimmigkeiten zu beheben. Weiterhin ist die Auswahl eines geeigneten Themas von besonderer Bedeutung. Dieses sollte zielgruppenspezifisch sein; also einen für die Zielgruppe verständlichen, attraktiven Komplexitätsgrad und klar identifizierbare Konfliktlinien aufweisen.
Veröffentlicht im April 2024