Frau steht am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin

Familienerzählungen von Verfolgung, Widerstand und Selbstbehauptung

In der Publikation "Geschichten von Romnja" sprechen sechs Frauen über die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf ihre Familien – persönliche Einblicke, die nachklingen.

Pinselstrich

"Leider sind wir mit unserer Geschichte nicht immer willkommen", dieser Satz von Serbez Heindorf beschreibt ein Gefühl und eine Tatsache. In einem Interview spricht sie über ihre Erfahrungen als Romni in der Publikation "Geschichten von Romnja. Familienerzählungen von Verfolgung, Widerstand und Selbstbehauptung" von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF). In dem Heft befassen sich Frauen der Romnja-Selbstorganisation Sawre Romnjenca aus dem Wendland mit der Zeit des Nationalsozialismus und geben dabei Einblicke in ihre Familienbiografien. Umgesetzt wurde die Publikation durch das Modellprojekt "Historisch-politisches Lernen in der Post-Migrationsgesellschaft", in dem sich die Teilnehmenden mit Rassismus gegen Sintizze und Sinti, Romnja und Roma in der Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen. 

Aufarbeitung der eigenen Biografie

"Es gibt in der Mehrheitsgesellschaft sehr wenig Wissen über die Verfolgung von Sintizze und Sinti, Romnja und Roma in der Vergangenheit, aber auch wenig Wissen über Antiziganismus heute. Wir wollen mit unserem Projekt dagegenwirken", sagt Jutta Weduwen, Projektleiterin und Geschäftsführerin von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. In der Publikation sprechen Kumrije Coljaj, Drita Wagner, Rushe Azmilay, Xhevahire Coljaj, Vesna Neziri, Vasvije Osmani und Serbez Heindorf über die Ermordung und Verfolgung ihrer Familien im Zweiten Weltkrieg. Sie sprechen auch über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und über ihre Flucht nach Deutschland in den 1990er-Jahren. Sie sprechen darüber, was es bedeutet, eine Romni zu sein. "Der Schwerpunkt liegt auf den Familiengeschichten, denn in unseren Seminarreihen geht es um die eigene Biografie", sagt Projektkoordinatorin Janika Raisch. "Die eigene Geschichte reflektieren und erarbeiten, dadurch sind in unseren Seminarwochenenden die Texte entstanden."

Jugendliche blättert in einem Buch
Besuch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Publikation "Geschichten von Romnja" Seite 8, Bild: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Es sind mehrere Generationen, die so Einblicke in die Kontinuität von Verfolgung, Ausgrenzung und Rassismus geben – damals wie heute. In der Publikation geht es aber nicht allein darum, sondern vor allem um den Kampf und Widerstand, um Glück und Erinnerungen. "Die eigene Familiengeschichte erzählen zu können – in Bezug zur NS-Vergangenheit und deutschen Gegenwart – und in Form einer Buchveröffentlichung sichtbar zu machen, das war empowernd für die teilnehmenden Romnja", so Janika Raisch. Die Protagonistinnen sind dabei ganz bewusst mit ihren Flucht- und Migrationsgeschichten in die Öffentlichkeit gegangen, um auf die Schicksale von Romnja und Roma im Zweiten Weltkrieg aufmerksam zu machen.

Durch die Familienerzählungen werden geschichtliche Zusammenhänge erklärt, um ein Bewusstsein für die Verfolgung, Vernichtung und Ausbeutung von Romnja und Roma, Sintizze und Sinti während des Nationalsozialismus zu schaffen. Gleichzeitig geht es auch um Migrationsgeschichten und darum, den Diskurs über Romnja zu verändern. "Romnja und Roma, Sintizze und Sinti sind in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert. Diese Leerstelle führt im öffentlichen Diskurs zu einer verzerrten, oft rassistisch geprägten Darstellung, einem Sprechen über statt mit den Menschen", so Janika Raisch. Die Broschüre ginge auf das Anliegen der porträtierten Romnja zurück, ihre persönlichen Perspektiven in den deutschen Erinnerungsdiskurs einzubringen.

Die Frauen erinnern sich wie es ist, trotz der erschreckenden Familiengeschichten nach Deutschland zu flüchten. Mithilfe der angebotenen Bildungsprogramme und Seminarwochenenden konnten sie auch Erinnerungsorte, Denkmäler und Gedenkstätten von ehemaligen Konzentrationslagern besuchen. Die dortigen Gespräche boten ihnen Raum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte und sie tauschten sich über ihre Erfahrungen als Romnja in Deutschland aus.

Frau steht vor Informationstafel auf der zu lesen ist: "Es kam mir vor, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet. Es herrschte offener Terror. Mein Freund, der mit mir zusammen verhaftet worden war – ich war siebzehn, er war zwanzig –, sagte bei seiner Ankunft: ‚Das werde ich nicht mehr als drei Monate aushalten.‘ Er war tatsächlich drei Monate später tot."
Besuch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Publikation "Geschichten von Romnja" Seite 14, Bild: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Zudem werden die Themen aus den Seminaren in den nächsten Bildungsprogrammen aufgegriffen – wie beispielsweise die Abschiebung. "Was sind meine Rechte beim Aufenthaltsstatus? Es ist ein Thema, mit dem sich die Gruppe im Wendland auseinandersetzen möchte", so Janika Raisch. Dass dies wichtig ist, wird auch durch die Broschüre deutlich. Vasvije Osmani schildert darin, wie es ist, wenn morgens um vier Uhr die Polizei aufgrund der Abschiebung klingelt. Die Zeit reicht kaum aus, um ein paar Habseligkeiten zusammenzusuchen und das eigene Kind bleibt sogar zurück, weil es bei einem Freund übernachtet hat. Viele Menschen haben sich dafür eingesetzt, dass Vasvije Osmani und ihre Familie bleiben können. Eine Geschichte, die bewegt: "Wenn ich ein Auto vor dem Haus sehe oder nachts Schritte vor der Tür höre, verfällt mein Körper in Stress. Ich erzähle diese Geschichte, damit die Menschen besser verstehen können, wie es ist, wenn nachts um vier die Polizei vor der Tür steht und eine Familie auseinanderreißt. Es wird oft gesagt, dass die Roma kein Land hätten. Aber Deutschland ist mein Heimatland geworden."


Veröffentlicht im April 2023

Dieser Beitrag ist Bestandteil des Themenmonats "Antiziganismus".