Demokratie ist für alle da. Die umfassende politische Beteiligung von Menschen mit Behinderung ist im Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben. Dennoch waren in Deutschland Menschen, die in Vollbetreuung leben, bis zum Bundestagsbeschluss zum inklusiven Wahlrecht am 15. März 2019 von der Wahl ausgeschlossen. Mit der Gesetzesänderung wurde dem Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention endlich entsprochen, sodass die von der Änderung betroffenen 85.000 Menschen in Deutschland seither wählen dürfen.
Barrieren abbauen
Der Beschluss markiert einen wichtigen Schritt auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft. "Es müssen allerdings noch viele Barrieren abgebaut werden, bis Menschen mit kognitiven Einschränkungen problemlos wählen können", sagt das Team des Modellprojekts "Wie geht Demokratie? Inklusive Demokratiebildung für Jugendliche und junge Erwachsene mit geistiger Behinderung" der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) in Bonn.
Um vom inklusiven Wahlrecht Gebrauch zu machen, erklärt die Projektgruppe, müssen Menschen mit kognitiven Einschränkungen über ihr Wahlrecht aufgeklärt werden, aufbereitetes Wissen zu Wahlen erwerben und den Wahlvorgang einüben. Die Menschen der Zielgruppe, so das Team, kennen ihre Bedürfnisse und wissen, was sie brauchen. So äußerten sie etwa den Wunsch nach leicht verständlichen Wahlprogrammen und Wahlunterlagen, die mit ihnen zusammen erarbeitet werden.
Drei Modellstandorte erproben inklusive Bildungskonzepte
Das Modellprojekt widmet sich diesen Herausforderungen an den drei Standorten Nürnberg, Hamminkeln und Herzogenrath. Hier werden in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen Methoden und Ansätze zu Demokratie und politischer Beteiligung entwickelt und ausprobiert. Dabei lernen die Teilnehmenden Möglichkeiten kennen, selbstständig für ihre Interessen als Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Werkstätten oder Bewohnerinnen und Bewohner von Wohneinrichtungen einzustehen, mitzureden und letztlich mitentscheiden zu können. Die Materialien und Methoden stehen auch auf der Projektseite zum Download zur Verfügung.
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Neben dem Abbau kognitiver Barrieren will das Projekt für die Zielgruppe einen Lebensweltbezug zum Thema "Wahlen" herstellen, der sich an den Bedürfnissen orientiert und dazu ermutigt, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Projektgruppe erklärt dies am Beispiel einer Methode des Modellstandorts Herzogenrath: "Die Kolleginnen und Kollegen deklinieren mit Bewohnerinnen und Bewohnern das Politische an alltagsnahen Beispielen und Bildern durch. Das Fazit: Auch die Pizza ist politisch, wenn es darum geht, zu bestimmen, welche Zutaten da draufkommen, damit sie einem persönlich schmeckt."
"Wir wollen bewusst mit unserem Projekt den gängigen Blick auf Menschen mit kognitiver Einschränkung reflektieren. Auch 14 Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland ist das medizinische Modell, das den Menschen mit Behinderung als anweisungsbedürftiges Wesen betrachtet, durchaus noch weit verbreitet. Dies behindert häufig die gesellschaftliche Wahrnehmung, unsere Zielgruppe als politische Menschen zu sehen."
Team des Projekts "Wie geht Demokratie?"
Umdenken in Politik und Gesellschaft
Das Projekt wirbt für ein Umdenken in Gesellschaft und Politik hinsichtlich der verschiedenen Formen von Ableismus. So wird versucht, Begegnungsräume für den Dialog zwischen Menschen mit kognitiven Einschränkungen und politischen Akteurinnen und Akteuren zu schaffen.
Auch Betreuerinnen und Betreuer sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der politischen Bildung werden durch das Projekt angesprochen. Nach Einschätzung des Teams gibt es eine große Neugier, aber auch Unsicherheit, da das Konzept bestehende Denkmuster infrage stellt. So würden Betreuende aus der Sorge heraus, zu überfordern, eher unterfordern. Nach einem Workshop stellen sie jedoch häufig fest: "Das hätte ich XY gar nicht zugetraut." Inklusive Demokratiebildung brauche ein hohes Maß an Sensibilität, Flexibilität und Kreativität bezüglich der Methoden und Materialien, da es sehr unterschiedliche Lernschwierigkeiten gibt und Bildungsangebote diesen entsprechend angepasst werden müssen.
Der internationale Tag der Menschen mit Behinderung, der seit seiner Ausrufung 1993 durch die Vereinten Nationen jährlich am 3. Dezember begangen wird, bietet einen Anlass, um sich Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu vergegenwärtigen. Am Projekt "Wie geht Demokratie?" wird deutlich, dass Inklusion in alle Lebensbereiche hineinreicht und wie wichtig es ist, bestehende Standards kritisch zu hinterfragen.
Pläne zur Europawahl 2024
Mit der Europawahl steht 2024 die nächste große Wahl an. Dazu planen die drei Modellstandorte, junge Menschen mit und ohne kognitive Einschränkungen im Rahmen von Workshops zu "Erstwahlprofis" auszubilden. Die Idee dabei ist, die Bildungsangebote inklusiver zu gestalten und sich miteinander auf die bevorstehende Wahl vorzubereiten. Die "Erstwahlprofis" können anschließend anderen über das Thema Wahlen berichten und den Wert von demokratischer Mitbestimmung weitertragen. Vielleicht gibt es bei den Workshops auch Pizza – das entscheiden die Teilnehmenden.
Veröffentlicht im November 2023