Tagungsraum der Antiziganismus-Fachtagung mit Anwesenden

Antiziganismus: Nachholbedarf des deutschen Bildungssystems

Die erste Fachtagung des Modellprojekts "Wir sind hier!" rückte das Thema Antiziganismus im Bildungsbereich in den Fokus.

Pinselstrich

Antiziganismus und damit einhergehende Stereotype sind innerhalb der Gesellschaft noch immer gegenwärtig. Auch das deutsche Bildungssystem zeigt hier blinde Flecken auf. Im Herbst 2021 fand nun die erste Fachtagung des Modellprojekts "Wir sind hier!", unter dem Titel "Antiziganismus: Nachholbedarf des deutschen Bildungssystems", statt.

Im Gespräch mit "Demokratie leben!" berichtet Veronika Patočková, Mitbegründerin von RomaTrial e. V., über die Tagung und die Arbeit des Projekts.

Vor welchem Hintergrund fand die Fachtagung statt und welche Ergebnisse gibt es?

Im Bereich der Bildung gegen Antiziganismus wurden in den letzten Monaten neue Erkenntnisse veröffentlicht, die wir in einem breiten Kreis von Fachkundigen aus der Antirassismusarbeit aufgreifen und für uns alle zugänglich machen wollten. Damit lag die Fachtagung am Puls der Zeit: Im April 2021 kam eine Studie über die Bildungssituation von Romnja und Roma und Sintize und Sinti in Deutschland heraus, für die 600 Angehörige der Minderheit interviewt wurden. 60 Prozent der Befragten beklagten persönliche Diskriminierungserfahrungen in der Schule. Im Mai 2021 stellte die Unabhängige Kommission Antiziganismus in ihrem Bericht fest, dass eine "Selbstreflexion des Bildungssystems hinsichtlich des darin verankerten institutionellen Rassismus" gegenüber Sintize, Sinti und Romnja, Roma ausbleibt. Nur Tage vor der Fachtagung wurde die neuste Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung veröffentlicht. Das Ergebnis: Antiziganismus wird in keinem der 197 untersuchten Lehrpläne aus 16 Bundesländern explizit als Unterrichtsthema benannt, dutzende Bücher reproduzieren sogar immer noch den rassistischen Z-Begriff, ohne ihn ausreichend zu entkräften oder zumindest in Anführungszeichen zu setzen.

Das sind gravierende Erkenntnisse, denen das deutsche Bildungssystem möglichst schnell gerecht werden muss. In diesem Sinne waren sich auch die Expertinnen und Experten auf dem Abschlusspanel der Fachtagung einig: Die Fakten und Zahlen liegen nun endlich auf der Hand, jetzt ist es an der Zeit zu handeln und eine strukturelle Veränderung in Richtung eines gleichberechtigten, diskriminierungskritischen Bildungssystems zu vollziehen. Gerade Selbstorganisationen von Romnja und Roma und Sintize und Sinti dürfen dabei keine Zaungäste mehr sein, sondern müssen zu den zentralen Playern werden.

Die Fachtagung fand im Rahmen des Projekts "Wir sind hier!" statt. Was sind die Ziele des Projekts und wodurch zeichnet es sich aus?

Das Projekt bündelt in einem bundesweiten Vernetzungsprozess, zu dem eben auch Fachtagungen gehören, das bisherige Wissen im Bereich der (außer-)schulischen Bildung gegen Antiziganismus und entwickelt es weiter. Dabei wendet das Projekt die Ergebnisse in Schulen und Jugendeinrichtungen in Berlin, Brandenburg und Sachsen praktisch an. Eine besondere Rolle kommt dabei jugendlichen Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma zu, die dazu befähigt werden, sich als Peer-Trainerinnen und -Trainer aktiv an der Entwicklung und Durchführung von Bildungsangeboten zu beteiligen. Das Ziel ist es, nicht nur einzelne Jugendliche, Lehrkräfte und Fachkundige zu erreichen, sondern auf der Basis der gesammelten Erfahrungen ein Bildungstool zu entwickeln, das auf die Gefahren der gesellschaftlichen Spaltung hinweist, die selbstbestimmten Perspektiven junger Romnja, Roma und Sintize, Sinti sichtbar macht, die Frage "Wer sind wir?" neu verhandelt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

Info-Tisch zur Fachtagung mit Broschüren, Flyern, Büchern und Buttons
Info-Tisch zur Fachtagung "Antiziganismus: Nachholbedarf des deutschen Bildungssystems", Bild: Jana Kießer

Im Fokus der Fachtagung stand das Bildungssystem, welches sowohl als Teil der Lösung als auch des Problems für Antiziganismus eingeordnet wurde. Wie kann dieser Doppelrolle begegnet werden?

Das Bildungssystem muss seinem gesetzlichen Auftrag zur Demokratiebildung flächendeckend nachkommen. Natürlich gibt es viele gute, reflektierte Lehrkräfte, Schulen und außerschulische Angebote, sie sind aber bei weitem nicht die Regel. Dabei geht es nicht nur um die speziellen Defizite hinsichtlich der Bildung über Romnja und Roma und Sintize und Sinti sowie Antiziganismus. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus ging viel tiefer und bezeichnete Schule und Ausbildung als "Teil des Problems", nicht zuletzt auch weil das Bildungssystem nicht bereit sei, den eigenen institutionellen Rassismus zu reflektieren.

Es reicht also nicht aus, mehr Raum und Bewusstsein für das Thema im Unterricht zu schaffen. Für einen kritischen pädagogischen Umgang, so die Kommission, bedürfe es "eines Bewusstseins für die ausgrenzenden Wirkungen alltäglicher sozialer Unterscheidungspraktiken gegenüber Schülerinnen und Schülern, die einer rassifizierten Gruppe zugeordnet werden". Davon würden übrigens in unserer Gesellschaft, die zunehmend diverser wird, viele andere Menschen auch profitieren, nicht nur Sintize und Sinti und Romnja und Roma. Konkret empfiehlt die Kommission die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen, Abbau von Defizitorientierungen im pädagogischen Handeln und einen Perspektivwechsel in Forschung und Bildung: In allen Lehramtsstudiengängen sollen rassismuskritische Inhalte verankert werden, Sintize, Sinti und Romnja und Roma müssen im Bildungssystem besser repräsentiert werden – vom Lehrpersonal über Schulleitungspositionen bis zur Beteiligung von Selbstorganisationen bei der Entwicklung von Studien- und Fortbildungsprogrammen.

2014 erschien das erste Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus. Welche Entwicklungen in der Bildungslandschaft, aber auch Gesellschaft sind seitdem erkennbar?

Sintize, Sinti und Romnja, Roma waren ja schon immer Teil der deutschen Gesellschaft, und somit ist es fast erstaunlich, wie spät und wie wenig sich die Gesellschaft mit der Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppen auseinandersetzt. Nach 2014 sind noch einige weitere Handreichungen und Bildungsangebote entstanden, oft aber ohne aufeinander aufzubauen, oder Bezug zu nehmen.

Das Thema Bildungsarbeit gegen Antiziganismus kommt dennoch langsam im Bewusstsein der (Bildungs-)Politik und Forschung an, wie man auch an den neuen Studien und Berichten sehen kann. Im März 2019 hat der Bundestag den Beschluss gefasst, die Unabhängige Kommission Antiziganismus einzusetzen. Das war bislang einer der wichtigsten Meilensteine.

Wir können aber auch eine positive Weiterentwicklung der Diskurse und Ansätze beobachten: So wird bei der Erstellung von Materialien immer stärker auf eine gleichberechtigte Beteiligung von Sachverständigen aus der Minderheit sowie von Selbstorganisationen geachtet, auch Intersektionalität wird immer häufiger und umfassender in den Blick genommen.

Der Verein RomaTrial e. V. setzt sich seit 2012 mit vielfältigen Methoden und Projekten gegen Antiziganismus ein – welche Erfolge Ihrer Arbeit sind nun mehr erkennbar?

Unser Ziel war es von Anfang an, neue gesellschaftliche Räume für die vielfältigen Stimmen von Sintize, Sinti und Romnja, Roma zu schaffen, und ihre Perspektiven in den Mainstream zu bringen. Dies wird immer einfacher, Romnja, Roma und Sintize, Sinti werden immer öfters mitgedacht – sei es im Bereich der Kunst und Kultur, der Politik oder des Aktivismus. Der Gründer und Vorsitzende unseres Vereins, Hamze Bytyçi, hat 2012 ein Theaterstück am Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg aufgeführt. Seitdem hat sich Berlin zu einem wichtigen, international führenden Standort für künstlerische Selbstrepräsentation von Romnja, Roma, Sintize, Sinti und anderen marginalisierten Gruppen entwickelt.

Dieser Tendenz stehen aber auch deutliche Rückschläge entgegen: Das ebenfalls 2012 eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sintize und Sinti und Romnja und Roma Europas wird seit Monaten durch den Bau einer S-Bahn-Linie bedroht. Viele Holocaust-Überlebende, aber auch andere Angehörige einer Minderheit empfinden alleine schon die Diskussionen darüber, wie sehr das Denkmal beschädigt oder beeinträchtigt werden darf, als entwürdigend.

Wir wollen daher weiterhin auf Vernetzung und gegenseitige Unterstützung zwischen verschiedenen benachteiligten Gruppen setzen, und auf intersektionale Herangehensweisen. Denn erst wenn alle Menschen gleichberechtigt behandelt werden und die Gesellschaft kritisch mit den eigenen Rassismusstrukturen umgeht, kann auch die Demokratie wirklich blühen.


Veröffentlicht im Oktober 2021