"Wenn niemand bereit ist, Gesicht zu zeigen, ändert sich auch nichts"

Tugay Saraç ist LGBTIQ*-Koordinator der Ibn Rushd-Goethe Moschee und eines der Gesichter der Kampagne "Liebe ist halal", die für die Akzeptanz sexueller Vielfalt im Islam wirbt. Mit "Demokratie leben!" hat er über seine Arbeit und die Reaktionen auf die Kampagne gesprochen.

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Die Kampagne "Liebe ist halal" läuft nun seit einer Weile. Wie ist die Resonanz bisher?
Wir haben mit allem gerechnet und wussten, dass wir uns auf positive wie negative Resonanz einstellen müssen. Es gab dann sehr viele positive Reaktionen. Viele junge Menschen dankten uns für unsere Arbeit und fragten nach Beratung. Junge muslimische Influencer und Influencerinnen finden unser Projekt toll. Sie teilen alles, was wir posten und zeigen sich solidarisch. Aus anderen Kreisen, wie zum Beispiel Moscheen und Verbänden, gibt es leider keine Unterstützung.

Eine positive Überraschung war die Menge der Menschen, die sich bei uns gemeldet haben. Menschen, die nach Hilfe und Beratung fragen. Das war natürlich unser Ziel, aber ich hätte nicht gedacht, dass sich tatsächlich so viele Menschen trauen würden. Für mich persönlich war es schön, dass ich von netten Menschen auf der Straße angesprochen wurde. Die negative Resonanz sollte allerdings nicht außen vorgelassen werden: Mit dem Start folgten viele Beleidigungen und Morddrohungen.

Nehmen Sie persönlich Veränderungen innerhalb der muslimischen Communitys wahr, die sich vielleicht auch auf die Kampagne zurückführen lassen?
Unsere Kampagne hat eine große Onlinedebatte ausgelöst. Auf Instagram, YouTube und TikTok gibt es positive wie auch viele negative Videos über uns. In den Kommentaren kann man teils hitzige Debatten beobachten. In meinen Augen ist das Führen dieser Debatte schon ein großer Schritt. Auch dass so viele queere muslimische Menschen endlich eine Anlaufstelle haben, ist überaus positiv.

Initiatorin der Kampagne ist die Ibn Rushd-Goethe Moschee, die einen progressiven Islam vertritt. Wie sind Sie zur Ibn Rushd-Goethe Moschee und der Aufgabe als LGBTIQ*-Koordinator gekommen?
Ich habe viele Jahre versucht, meine Homosexualität mit einem radikalen Islam zu "heilen". Wenn man vor zehn Jahren Islam und Homosexualität googelte, stieß man fast ausschließlich auf die altbekannten Hassprediger. 2017 war es mir dann alles zu viel. Ich war enttäuscht, dass ich immer noch schwul war, trotz all der Gebete. Prediger sagten mir immer, Gott nehme jedes Bittgebet an. Nur meine wollte er scheinbar nicht annehmen. 2017 wurde auch die Ibn Rushd-Goethe Moschee gegründet. In ihr fand ich dann meine Heimat. Dort war ich damals der erste offen schwul lebende Muslim und wurde gefragt, ob ich diese Aufgabe übernehmen möchte. Ich nahm an.

Wie sieht ihre tägliche Arbeit aus? Mit welchen Anliegen treten die Leute an Sie heran?
Meine Arbeit fängt meistens damit an, Nachrichten auf Instagram zu beantworten. Selbst über meine private Seite bekomme ich jeden Tag Nachrichten von queeren Muslimen und Musliminnen. Unser Anliegen ist es auch, theologische und wissenschaftliche Antworten bieten zu können. Deshalb arbeite ich auch an Texten über Homoerotik in der Geschichte. Unter anderem habe ich einen Text über Homosexualität im Osmanischen Reich verfasst. Die Anliegen der Menschen, die uns schreiben, sind meist die gleichen. Es sind LGBTIQ*-Muslime und- Musliminnen, die entweder selbst Probleme mit ihrer Identität haben, oder junge Menschen, die große Probleme mit ihrer Familie haben.

Tugay Saraç blickt in die Kamera
Tugay Saraç, LGBTIQ*-Koordinator der Ibn Rushd-Goethe Moschee, Bild: Ibn Rushd-Goethe Moschee
Einige Menschen stehen vor einem Bushäuschen und halten Plakate in die Kamera
Kampagne "Liebe ist halal", Bild: Ibn Rushd-Goethe Moschee

Sie sind eines der Gesichter der Kampagne "Liebe ist halal". Ist Ihnen die Entscheidung leichtgefallen, mit einem derart persönlichen Thema in die Öffentlichkeit zu gehen?
Die Entscheidung fiel mir sehr leicht. Ich weiß, dass viele Menschen Ähnliches wie ich durchmachen müssen, oder noch mehr. Wenn niemand bereit ist, Gesicht zu zeigen, ändert sich auch nichts.

Wie ist das, auf der Straße wiedererkannt zu werden?
Menschen, die mich ansprachen, waren meist nett, bedankten sich für die Arbeit oder wollten nur Hallo sagen. Es passierte aber auch, dass ich genau neben einem Plakat auf den Bus wartete und von einem fluchenden Mann beäugt und beleidigt wurde. Ich versuche, mich nicht groß mit Anfeindungen zu beschäftigen. Was relevant ist, zeige ich natürlich bei der Polizei an. Nach vielen Morddrohungen und negativen Begegnungen versuche ich mich nur noch mit FFP2-Maske als "Tarnung" im öffentlichen Raum zu bewegen. Die positiven Rückmeldungen und mein großartiges Umfeld sind natürlich eine riesige Stütze.

Die Kampagne wird im Rahmen des Modellprojektes "Anlaufstelle Islam und Diversity" von "Demokratie leben!" gefördert. Welche Aktivitäten führt die Anlaufstelle sonst noch durch? Was ist für die Zukunft geplant?
Die Anlaufstelle bietet neben der Kampagne einen wöchentlichen Stammtisch für Betroffene an. Dieser dient als Schutzraum, an dem sich Menschen mit ähnlichen Erfahrungen kennenlernen können. Außerdem gibt es Seelsorge, eine Schulung für Menschen, die ehrenamtlich Seelsorger sein möchten, Aufklärung über die Geschichte von islamisch geprägten Gesellschaften und ihren Bezug zur Homoerotik, Workshops an Schulen zum Thema Islam und Queerness und verschiedene Onlineformate.

In Zukunft wollen wir mehr wissenschaftliche Texte erarbeiten und unser Onlineangebot erweitern. Das große Ziel ist es, die Debatte über Queerness und Islam in breiter Öffentlichkeit und mit Vertretern konservativer Strömungen zu führen. Außerdem möchten wir öfter Veranstaltungen organisieren in denen wir Filme, Kunst und Vorträge anbieten.

Was treibt Sie persönlich in Ihrem Engagement an, was motiviert Sie?
Meine größte und wichtigste Motivation ist es, die Situation von Betroffenen zu verbessern. Es bricht mir das Herz, Geschichten von völlig unschuldigen, geschlagenen und getöteten queeren Menschen zu lesen. Jede Nachricht, in der sich jemand für unsere Arbeit bedankt, ist eine große Motivation. Und so oft zu lesen, dass wir Leben gerettet haben, ist das Großartigste. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Würde ich aufhören, würde ich mich fühlen, als hätte ich alle Betroffenen im Stich gelassen.


Veröffentlicht im Februar 2022