Welche Rolle spielt Religion bei der Radikalisierung?

14. Band der Schriftenreihe der Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention erschienen.

Pinselstrich

Bereits seit dem Jahr 2000 befasst sich die Arbeits- und Forschungsstelle Demokratieförderung und Extremismusprävention (AFS) des Deutschen Jugendinstituts mit den pädagogischen und jugend­politischen Herausforderungen in den Themenfeldern, die auch das Bundesprogramm "Demokratie leben!" bearbeitet.

Sie beschäftigt sich insbesondere mit pädagogischen Angeboten für junge Menschen, forscht zum Verlauf jugendlicher Radikalisierungprozesse und identifiziert neue Herausforderungen in den Bereichen der Demokratieförderung und Extremismusprävention. Die zentralen Erkenntnisse ihrer Forschung veröffentlicht die AFS in einer Schriftenreihe, die bislang 14 Bände umfasst.

Im neuesten Band geht es zum Beispiel um die Rolle von Religion bei Radikalisierungs­prozessen zum islamistischen Extremismus. Gerade für in der Präventionsarbeit Tätige sei der richtige Umgang mit dem Islam im Spannungsfeld zwischen Religiosität und Radikalität eine große Herausforderung.

Radikalisierung und Religion

Im ersten Teil des insgesamt neun Aufsätze umfassenden Bandes widmen sich die Autorinnen und Autoren der Rolle von Religiosität für junge Menschen. Anne Felicitas Scholz stellt etwa in ihrem Beitrag fest, dass bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse dazu existieren, welche Bedeutung die religiöse Alltagspraxis innerhalb von Familien bei der Hinwendung zum radikalen Islamismus hat.

Die bislang vorliegenden Erkenntnisse deuteten allerdings darauf hin, dass die Religiosität der Familie bei der Radikalisierung junger Menschen keinen signifikanten Einflussfaktor darstellt. Allenfalls sei zu beobachten, dass eine geringe Religiosität des Elternhauses für einige Jugendliche Anlass zur Abgrenzung und stärkeren eigenen Beschäftigung mit der Religion sei. Es sei eher zu vermuten, dass der Ausgangs­punkt zur Hinwendung zum radikalen Islamismus in schwierigen innerfamiliären Beziehungen liege und dafür eine Art Kompensation darstelle.

Orientierungspunkte

Im zweiten Teil des Bandes stellt Thorsten Knauth den Ansatz eines dialogischen religionsbezogenen Lernens vor, der etwa im Religionsunterricht an Schulen eingesetzt werden kann. Grundlage dieses Ansatzes ist die Auffassung, dass der dialogische Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zur Anerkennung anderer Weltsichten beitragen kann.

Konkret bedeutet das, dass im Schulunterricht verschiedene, entgegengesetzte Positionen junger Menschen in einen konstruktiven Dialog gebracht werden sollen. Damit könne indirekt ein Beitrag zur Radikalisierungsprävention geleistet werden, so Knauth. Die Herausforderung bestehe darin, in diesen Angeboten eine Kultur des Reflektierens, Vertrauens und Interessiertseins zu etablieren und bei den Jugendlichen so die Bereitschaft zu schaffen, die eigenen Werte zu reflektieren und offen gegenüber den Werten anderer zu sein.

Pädagogische Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus

Im dritten Teil analysieren die Autorinnen und Autoren auf Basis empirischer Erhebungen den Umgang mit Religion in der derzeitigen Präventionsarbeit. Joachim Langer schildert etwa in seinem Beitrag, gestützt auf die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Bundesprogramms "Demokratie leben!", wie Angebote der Radikalisierungsprävention in ihrer Arbeit mit Religion umgehen und welche Herausforderungen sich daraus ergeben. Er beschreibt zwei unterschiedliche Strategien:

  • Für den einen Typ von Präventions­angeboten stellt die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Muslimischsein den Ausgangspunkt für die weitere Arbeit dar. Sie erreichen ihre Adressatinnen und Adressaten über die Beschäftigung mit der Religion, setzen sich etwa mit innerislamischen Perspektiven auseinander und stehen oftmals in der Tradition des religiösen Lernens.

  • Der zweite Typ von Präventions­angeboten zeichne sich durch "klassische" Ansätze der politischen Bildung und der Sozialen Arbeit aus und nehme diese als Ausgangspunkt, um sich mit religiösen Themen zu befassen. Diese Angebote zielten darauf ab, die jungen Menschen gegen Angebote demokratiefeindlicher islamistischer Gruppen zu stärken, das demokratische Verständnis und positive Einstellungen gegen­über Vielfältigkeit zu festigen.

Der Beitrag führt anschließend aus, welche spezifischen Heraus­forderungen in der Projektarbeit sich für Projekte des jeweiligen Typs ergeben. Projekte des zweiten Typs, die in der Regel von säkularen Trägern durchgeführt werden, müssten sich beispielsweise häufig mit der Schwierigkeit auseinandersetzen, von islamischen Akteurinnen und Akteurinnen die Legitimität für die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen abgesprochen zu bekommen.

Generell sei es für Projekte beider Typen recht schwierig, belastbare Kooperations­beziehungen zu islamischen Organisationen aufzubauen und lokale religiöse Akteurinnen und Akteure von der Sinnhaftigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen.

Die AFS wird als Forschungsvorhaben im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.

Die AFS

Die AFS nahm im Jahr 2000 als Projekt "Rechts­extremismus und Fremdenfeindlichkeit" ihre Arbeit auf, war ab 2015 als "Arbeits- und Forschungs­stelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention" bekannt und führt seit 2020 schließlich ihre heutige Bezeichnung. Ihre wechselnden Bezeichnungen spiegeln sowohl den erweiterten Fokus ihrer Arbeit als auch geänderte gesellschaftlichen Problem­wahr­neh­mungen wider. So wurde etwa ab dem Jahr 2010 neben dem Rechtsextremismus auch der islamistische Extremismus in den Blick genommen.