Eine Gruppe von Menschen hält eine große Europaflagge in die Kamera

"Veränderungen in den Köpfen der Menschen mitgestalten"

In der Grenzregion zu Polen setzt sich das Modellprojekt "perspektywa - Zusammenleben und Beteiligung stärken" in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern dafür ein, zugezogene polnische Bürgerinnen und Bürger für die politische Teilhabe zu gewinnen und gleichzeitig mögliche Ressentiments und Missverständnisse zwischen Alteingesessenen und neu Zugezogenen abzubauen.

Pinselstrich

Grenzregionen bergen aufgrund ihrer geographischen Lage so manchen Unterschied im Vergleich zu eher inländisch gelegenen Landstrichen – sowohl strukturell gesehen, als auch im Zusammenleben der Menschen. Am Ende des Jahres 2019 lebten im Projektgebiet von "perspektywa", den Landkreisen Uckermark (Brandenburg) und Vorpommern-Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern), rund 6.600 Polinnen und Polen. Der sich daraus ergebende Anteil polnischer Nachbarinnen und Nachbarn kann dabei in einzelnen Gemeinden und Dörfern auf mehr als ein Drittel klettern. Das Modellprojekt setzt bei dieser Ausgangssituation an: Es möchte sowohl die Alteingesessenen als auch die Zugezogenen dafür gewinnen, gemeinsam ein lebendiges ländliches Zusammenleben zu gestalten. Die Zweisprachigkeit des Projekts, die schon im Projekttitel deutlich wird, ist dabei nur ein Schritt, alle Einwohnerinnen und Einwohner aktiv mit einzubeziehen.

"Demokratie leben!" hat darüber mit dem Projektleiter Niels Gatzke gesprochen, um mehr über seine Arbeit zu erfahren.

"Demokratie leben!": Herr Gatzke, Sie waren bereits von 2015-2019 Teil von "Demokratie leben!" mit dem Projekt "perspektywa - Vom Grenzraum zum Begegnungsraum". Wie würden Sie die Anknüpfungspunkte zum aktuellen Projekt "perspektywa - Zusammenleben und Beteiligung stärken" beschreiben?
Niels Gatzke: Es ist eine Entwicklung von der Bearbeitung von Vorurteilen gegenüber Polen, über Begegnung und der Förderung demokratischen Zusammenlebens zwischen Deutschen und Polinnen und Polen, hin zu Empowerment von polnischen Bürgerinnen und Bürgern im Gemeinwesen. Ohne dass die Themen jemals abgeschlossen werden – vielmehr erweitern wir unsere Angebote und passen sie den Bedarfen an.

Was ist der Unterschied zwischen urbanen Migrationsgesellschaften und einer Migrationsgesellschaft im ländlichen Raum wie bei Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg?
Erstmal liegt der Unterschied weniger in der Migrationsgesellschaft als in der sogenannten "Mehrheitsgesellschaft". Diese erwartet ein aktives Zusammenleben, Engagement für das Dorf. Sich einbringen in die gemeinsamen Belange – beispielsweise bei der Organisation des Dorffestes oder in der Feuerwehr. Das Spezielle im ländlichen Raum ist sicherlich auch die geringe Diversität. In unserem Fall trifft sie auch auf die Migrantinnen und Migranten zu, die nahezu alle aus Polen kommen. Einmalig ist die Migration in unserer Region aber auch schon aufgrund der reinen Zahlen: Es gibt beispielsweise mit Pomellen ein Dorf, in dem 52 Prozent der Bevölkerung aus Polen kommen.

Mit welchen Angeboten setzt das Projekt in der ländlichen Grenzregion zu Polen an?
Wir versuchen gerade im Dorfleben anzusetzen, es gemeinsam zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen zu gestalten und appellieren an unsere Zielgruppen sich auf etwas Neues einzulassen. Zusammenleben kann nicht gelingen, wenn Alteingesessene erwarten, die Zuzüglerinnen und Zuzügler gehen in die vorhandenen Vereine und können dort die eingespielten Aktivitäten mitmachen. Zusammenleben wird dann gut funktionieren, umso mehr Menschen sich darauf einlassen das Zusammenleben neu zu verhandeln. Und dieses Neu-Verhandeln ist für viele Menschen ungewöhnlich.

Wie gelingt im Projekt ein Miteinander auf Augenhöhe?
Häufig sind es neben dem mangelnden Wissen voneinander, über die Kultur oder Geschichte, die kleinen Dinge, die überraschen. Wir versuchen eher nicht uns an den Vorurteilen abzuarbeiten, sondern Unterschiede bei Werten in der deutschen und polnischen Gesellschaft zu betrachten. Beispielsweise ist die Kommunikation in Deutschland sehr sachorientiert sowie struktur- und regelorientiert. Das kann schon in der praktischen Zusammenarbeit zu Missverständnissen führen.

"In vier Jahren möchte ich mit meinem Projekt erreicht haben, dass es selbstverständlicher ist, die Perspektive der polnischen Nachbarn einzubeziehen."

Niels Gatzke

Projektleiter Niels Gatzke (rechts im Bild) schüttelt einem jungen Mann die Hand

Wo liegen denn typische Missverständnisse, die aus kulturellen Unterschieden herrühren?
Schwer zu sagen, aber, wenn ich von Deutschen ausgehe, dann wahrscheinlich in der internalisierten Kontrolle. Deutsche halten sich an Regeln und erwarten das auch vom gegenüber, gleichzeitig haben sie generell eine starke Identifikation mit ihren Tätigkeiten, sie nehmen ihre Rollen und die damit verbundene Verantwortung sehr ernst. In Polen hat sich – historisch begründet auch durch die Teilungszeit, in der Regeln immer von Fremden aufgestellt wurden – ein flexibler Umgang mit Regelsystemen etabliert.

Wie kann man diese Unterschiede konkret bearbeiten?
Eine polnische Zugezogene thematisierte im Training, dass ihre Witze von Deutschen meistens nicht verstanden werden und sie damit Irritationen hervorruft. Ihr war schon bewusst, dass es an kulturellen Unterschieden liegt, an Unterschieden im deutschen und polnischen Humor. Wir haben dann gemeinsam erarbeitet, dass sie sich nicht verändert, aber versucht in Zukunft hinter ihrem Witz zu sagen: "Das war ein Witz."

Zum Abschluss noch drei persönliche Fragen: Wie sind Sie zu "perspektywa" gekommen?
Ich bin vor 10 Jahren mit dem ersten "perspektywa"-Projekt in die Region gekommen. Ich habe mich während des Studiums für Polen interessiert. In meiner Jugend in Brandenburg bin ich wie viele nur mal auf die sogenannten Polenmärkte gefahren. Meine Magisterarbeit habe ich zum deutschen Polenbild in den letzten zweihundert Jahren geschrieben.

Sprechen Sie selbst auch Polnisch?
Ja. Ich habe Polnisch im Studium in Kursen gelernt und war dann ein Jahr Erasmusstudent an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn.

Was sind Ihre ganz persönlichen Eindrücke und Erlebnisse von der Projektregion?
Ich bin fasziniert. Weil sich durch den starken Zuzug und im Zusammenwachsen der Menschen auf beiden Seite der "Grenze" sehr viel verändert. Und ich bin dankbar, dass ich ein klein wenig bei den Veränderungen in den Köpfen der Menschen mitgestalten kann.