Mehrere Personen betrachten Ausstellungsexponate an der Wand.

Mit dem Koffer gegen Einsamkeit

Einsamkeit kann jeden treffen und dabei demokratieferne Einstellungen begünstigen. Für die pädagogische Arbeit zu dem Thema gibt es nun einen Methodenkoffer mit neuen Präventionsansätzen, die prodemokratische Haltungen bei jungen Menschen stärken.

Pinselstrich

Viele Menschen erleben in verschiedenen Lebensbereichen Einsamkeit. Diese kann freiwillig, aber auch unfreiwillig sein. Freiwillige Einsamkeit beschreibt den bewusst gewählten Rückzug aus sozialen Kontakten, dies wird dabei von der betroffenen Person nicht als Mangel erlebt. Wohingegen unfreiwillige Einsamkeit ein subjektives Empfinden ist, zu wenig soziale Kontakte zu haben. Nach den Ergebnissen des Einsamkeitsbarometers 2024 betrifft Einsamkeit in Deutschland alle Altersgruppen. Jüngere Menschen sind jedoch am häufigsten von Einsamkeit betroffen. Wenn diese länger anhält und mit Gefühlen wie Trostlosigkeit, Neid und Frustration einhergeht, kann der Wunsch nach neuen Kontakten und Gruppenzugehörigkeit so groß sein, dass Betroffene sich populistischen und extremistischen Gruppen zuwenden.

Ist Einsamkeit eine Gefahr für die Demokratie?

Die Studie "Extrem einsam" des Modellprojekts "Kollekt", ein Projekt vom Verein Das Progressive Zentrum, hat herausgefunden: Einsamkeit kann demokratieferne Einstellungen und somit auch den Anschluss an extremistische Gruppen begünstigen. Laut der Studie gibt es einen leichten Zusammenhang zwischen Einsamkeit bei jungen Menschen und autoritären Einstellungen, Verschwörungsmentalitäten und der Billigung politischer Gewalt. Auch die Ergebnisse des Einsamkeitsbarometers 2024 zeigen, Einsamkeitsbelastung kann zu einem geringeren Vertrauen in politische Institutionen führen und die Empfänglichkeit für Verschwörungserzählung steigern. Einsamkeit hat also eine demokratische Relevanz.

An diesem Punkt setzt "Kollekt" mit seinen Präventionsangeboten an: "Der Zuspruch junger Menschen zu unserer Demokratie hat auch damit zu tun, wie stark sie sich mit der Gesellschaft verbunden fühlen. Wir wollen diese Verbindung stärken und gleichzeitig Einsamkeit entstigmatisieren. Einsamkeit als Phänomen erfahrbar machen und von einer individuellen Herausforderung zu einem gesellschaftlichen Thema etablieren", sagt Melanie Weiser vom Kollekt-Team. Auf Grundlage der Studienergebnisse entwickelte das Team neue Präventionsansätze gegen Einsamkeit. Dies erfolgte in enger Zusammenarbeit mit 13 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Diese stammten aus unterschiedlichen Bereichen der Jugend- und Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt der Extremismusprävention und -intervention.

Methodenkoffer gegen Einsamkeit

Die Arbeit hat sich gelohnt. Sechs neue Ansätze sind im Methodenkoffer gegen Einsamkeit enthalten und können in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden, um den Umgang mit Einsamkeit und prodemokratische Haltungen zu stärken. "Der Methodenkoffer richtet sich an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendhilfe sowie der Sozialarbeit. Außerdem kann er von Pädagoginnen und Pädagogen im schulischen Kontext angewandt werden, da die meisten Methoden auch gut in einer Doppelstunde anwendbar sind", sagt Melanie Wieser. "Er bietet allen jungen Menschen ab 14 Jahren – ob selbst von Einsamkeit betroffen oder nicht – die Möglichkeit, mehr über die Thematik zu erfahren, spielerisch einen gesunden Umgang mit Einsamkeit zu entwickeln und zu erleben, dass man mit Einsamkeit in unserer Gesellschaft nicht alleine ist."

Die Methoden können je nach Kontext einzeln oder in Kombination angewendet werden. Alle Informationen – von der Vorbereitungszeit über Materialien bis hin zu einer genauen Anleitung der Durchführung inklusive Leitfragen – sind im Methodenkoffer enthalten. Die Ansätze sind auch dafür geeignet, mit jungen Menschen zu arbeiten, die sich für ihre Einsamkeitserlebnisse schämen oder sie verdrängen. Denn bei vielen Methoden wird Einsamkeit nicht direkt angesprochen, um eine mögliche Stigmatisierung zu vermeiden. Stattdessen werden beispielsweise wie bei dem Ansatz "Mix and Match" gemeinsame Interessen sichtbar gemacht, um Gleichgesinnte zu verbinden.

Auch bei dem Rollenspiel "Der rechte Anschluss" können sich junge Menschen mit ihrem Einsamkeitserleben auseinandersetzen, ohne sich als einsam zu outen. Die Methode regt sie dazu an, in einem Rollenspiel bestehende Kontakte zu reflektieren und zu prüfen, ob sie nur gepflegt werden, um nicht einsam zu sein. Gleichzeitig weist sie auf die Empfänglichkeit einsamer Menschen für extremistische Strukturen hin und soll aufzeigen, dass Gruppen in diesen Strukturen weder die gewünschte Anerkennung noch die gesuchte Selbstwirksamkeit vermitteln können.

Einsamkeit enttabuisieren

Das Quiz "Einsamkeit enträtseln!" beabsichtigt eine Enttabuisierung des Themas Einsamkeit und zeigt, dass einsam sein kein individuelles, sondern ein gesellschaftlich verbreitetes Phänomen ist. In allen sechs Methoden setzen sich die Nutzenden mit Gefühlen von Einsamkeit, aber auch möglichen Hintergründen und Ausdrucksformen auseinander "und werden so ermutigt, über persönliche Erfahrungen zu sprechen, anstatt sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen", führt Melanie Wieser aus. "Besonders gern werden hierbei künstlerisch-kreative Ansätze verwendet, wie die Methode 'Gemeinsam einsam mit ChatGPT', die neben Erkenntnissen über Einsamkeit auch die Medienkompetenz junger Menschen stärkt. Ebenso beliebt ist die Methode 'Per DU', bei der in Form einer Ausstellung Kunst als Ausdrucksform ins Zentrum gerückt wird."

Die Projektverantwortlichen haben neben dem Methodenkoffer ein Online-Angebot geschaffen, das jungen Menschen einen Raum zum anonymen Teilen ihrer Einsamkeitserfahrungen ermöglicht. Das Kollekt-Portal regt sie durch gezielte Fragen dazu an, in den Austausch darüber zu kommen, wie sie Einsamkeit erleben und was sie sich von der Politik wünschen.

Das Einsamkeitsbarometer 2024 fand heraus, soziale Räume und Begegnungsstätten, die niedrigschwellig zugänglich sind, können Menschen vor Einsamkeit schützen. Gesellschaftliche Teilhabe und starke soziale Bindungen sind weitere wichtige Schutzfaktoren gegen Einsamkeit, so die Ergebnisse der Langzeitstudie. Auch auf Mitmenschen achten, sie ansprechen und einbinden, kann dazu beitragen, dass sie ihre Einsamkeit überwinden können.


Veröffentlicht im Juli 2024