Telegram, YouTube, Facebook: Messengerdienste, Videoplattformen und Social Media dienen vermehrt als Informationsquelle für ihre Nutzerinnen und Nutzer, in Ergänzung oder auch als Ersatz für die klassische Berichterstattung in Zeitung, Radio und Fernsehen. Seit geraumer Zeit verzeichnen diese sich selbst als "alternative Medien" bezeichnenden Kommunikationskanäle vermehrt an Zulauf. Immer mehr Menschen ziehen sich in diese Kanäle und die dort geführten Diskussionen zurück. Diese Kanäle sehen sich in Opposition zu den klassischen Medien. Die redaktionelle Überprüfung von Informationen und eine Kontrolle des Wahrheitsgehaltes in der Berichterstattung fehlt auf diesen Kanälen. Dadurch finden immer mehr ungeprüfte und unwahre Nachrichten, sogenannte "Fake News", unwidersprochen Verbreitung. Das Zentrum für liberale Moderne analysiert in seinem Projekt "Gegen-Medien: Parallelöffentlichkeit und Radikalisierungsmaschine zur Delegitimierung der repräsentativen Demokratie", warum sich so viele Menschen von dieser Gegenöffentlichkeit angezogen fühlen und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Zivilgesellschaft hat.
Um diese Gegenöffentlichkeit einzuordnen, nutzt das Projekt den Begriff der "Gegenmedien", um eine Abgrenzung zum selbstgewählten Begriff der Akteure deutlich zu machen und die grundsätzlich ablehnende Haltung der Kanäle zu kennzeichnen. Diese Medien können beispielsweise als klassische Zeitung oder Podcast, als Website, Social-Media-Kanal oder Chatgruppe in einem Messengerdienst auftreten. Je nach Stoßrichtung haben sie unterschiedliche Themen im Fokus, teilen aber ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, den etablierten Medienkanälen, dem Staat und den daran beteiligten Akteurinnen und Akteuren. Das Problem ist jedoch nicht unbedingt die formulierte Kritik, sondern der Rückzug aus dem Dialog miteinander in eigene Kanäle und Informationsblasen. Welche Auswirkungen dieser Rückzug für die demokratische Auseinandersetzung und Gesellschaft hat, untersucht das Projekt. Dazu arbeitet das Team bis Ende 2022 an einer Feldanalyse, vier Fallstudien, insgesamt elf monatlichen Monitorings und weiteren thematischen Artikeln, die auf der Projektwebsite zur Verfügung stehen.
Erste Erkenntnisse
Die Feldanalyse bildet den Auftakt der Untersuchung. Ein Ergebnis ist, dass 2020 die Reichweite und Abonnements dieser Gegenmedien einen großen Zuwachs verzeichneten. Zudem wurde eine Vernetzung der Kanäle untereinander über politische Lager hinweg festgestellt. Dabei sind fließende Übergänge von moderaten zu radikalen Kanälen sowie eine Scharnierfunktion einzelner Kanäle von "links nach rechts" zu verzeichnen. So wandeln sich die Motive in den Diskussionen schnell von einer gewissen Politikverdrossenheit zu radikaleren Ansichten. Dies verdeutlicht, wie breit das politische Spektrum hier ist. "Nicht alle Gegenmedien hantieren mit offenkundig antidemokratischen Positionen", heißt es dazu in der Feldanalyse. Vielmehr würden berechtigte Kritik und notwendige Debatten auf gemäßigten Kanälen von radikalen Medien aufgegriffen, gegen demokratische Institutionen und Politik gewendet und "damit ein Scharnier zwischen der bürgerlichen Mitte und radikalen Randzonen" gebildet.
Es wurden auch die Inhalte und Radikalisierungspotentiale der Kanäle analysiert. Dies geschah mit Hilfe von inhaltlichen Markern, die etwa Antisemitismus, Rassismus oder Kapitalismuskritik in den Beiträgen kennzeichnen oder die Thematisierung von Verschwörungsideologien, Einnahme von Gegenposition zu etablierten Medien und geäußertem Misstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie verdeutlichen.
Auf Grundlage dessen wurden diejenigen Medien ausgewählt, die in den monatlichen Monitorings unter thematischen Schwerpunkten durchgehend genauer untersucht werden. Das November-Monitoring erläutert die Berichterstattung zur Corona-Politik von sechs Kanälen. Eine wichtige Erkenntnis daraus: Nicht immer werden Fakten falsch wiedergegeben oder weggelassen. Vielmehr werden sie durch Überschriften und die Gewichtung im Artikel stark verzerrt dargestellt. Das Dezember-Monitoring beschäftigt sich ebenfalls mit sechs Kanälen, dieses Mal mit dem Schwerpunkt des Begriffes "die da oben", welcher als Schlüsselbegriff in vielen der untersuchten Kanäle benutzt wird.
Fest steht: Eine Trennung in "Wir" und "Die" bedroht die demokratische Diskussionskultur
Die bisherigen Ergebnisse verdeutlichen, dass die Abwendung von Kommunikationskanälen der Zivilgesellschaft und die Bildung von Informationsblasen unter Verwendung eigener Codes und Argumentationen eine Gefahr für die repräsentative Demokratie sein können. Denn laut der Feldanalyse kann in einer Gesellschaft ohne gemeinsame (Diskussions-)Räume und Sprache schwer zwischen unterschiedlichen Interessen vermittelt und zu einem Kompromiss geführt werden.
Dieser erste Forschungsstand ermöglicht es, durch die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Formate, jedem Einzelnen den eigenen Informationskonsum kritisch zu hinterfragen, die Verwendung bestimmter Begriffe als Hinweise für Radikalisierungspotential zu erkennen und durch die neuen Kenntnisse wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.
Veröffentlicht Februar 2022