Situation in einem Interview: Zwei Personen sitzen an einem Tisch, eine hält ein Mikrofon in der Hand.

Demokratie leben kennt kein Alterslimit

"Ein KICK für Hattingen" motiviert Seniorinnen und Senioren darin, sich stärker in den politischen Diskurs einzubringen. Daraus ergeben sich nicht nur einzelne Gespräche, sondern auch Interviewprojekte.

Pinselstrich

Im Laufe der Zeit verändert sich vielleicht das eigene Engagement für Demokratie, aber kommt es ganz zum Erliegen? Die Initiative "Ein KICK für Hattingen" setzt sich dafür ein, dass der Ruhestand kein Ausschlusskriterium für demokratische Teilhabe wird. In Gesprächskreisen und Interviews sprechen Seniorinnen und Senioren über gesellschaftliche, politische und auch persönliche Themen. Das ist nicht nur anspruchsvoll, sondern fördert auch die politische Streitkultur.

"Ein KICK für Hattingen" ist eine Initiative Bürgerschaftlichen Engagements und wird von der Partnerschaft für Demokratie Stadt Hattingen unterstützt. Starthilfe für das Projekt kam vom Freundeskreis der Stadtbibliothek und der Stadtbibliothek Hattingen. Die Corona-Pandemie hat zwar einige Planungen und Ideen eingeschränkt, aber neben den Gesprächskreisen konnten bereits mehrere Videoprojekte umgesetzt werden. Darin werden Bücher besprochen oder Gespräche mit Politikerinnen und Politikern geführt. Das letzte Interview fand mit dem Autor Niklas Frank statt, der in seinem neuen Buch "Meine Familie und ihr Henker" einen privaten Einblick in den Nürnberger Prozess am Vater Hans Frank gibt. Bekannt als "Schlächter von Polen" hat dieser den Tod von hunderttausenden Menschen mitzuverantworten.

Interview mit der Gründerin

Im Gespräch mit "Demokratie leben!" berichtet Initiatorin Dr. Martina Przygodda über ihr Engagement und die Idee für "Ein KICK für Hattingen". Sie erzählt zudem darüber, was gelebte Demokratie für sie bedeutet.

Was hat Sie zum Projekt "Ein KICK für Hattingen" motiviert?
Mir fiel auf, dass es in Hattingen zwar etliche Freizeit- und Kulturangebote für Seniorinnen und Senioren gibt, doch Möglichkeiten sich mit gesellschaftspolitischen Themen außerhalb der Parteienlandschaft zu beschäftigen, kaum vorhanden sind. Mittlerweile bin ich auch Seniorin und Ü60. Mir hat die Auseinandersetzung mit politisch relevanten Themen gefehlt und da kam mir die Idee, Seniorinnen und Senioren in Gesprächskreisen genau dazu zusammenzubringen.

Wir möchten keine theoretische Wissensvermittlung, sondern Gespräche mit persönlichem Bezug stärken. Erfahrungen austauschen, konstruktiv "streiten" und vielleicht auch mal mit einer anderen Sicht auf die Dinge nach Hause gehen – das sind unsere Ziele. Zusätzlich haben wir für Hattinger Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen Lesungen und Diskussionen mit Autoren angeboten, deren Fokus auf Inhalte "Gegen das Vergessen" zielte. Eine Lesung mit Randi Crott musste leider ausfallen, aber im November hatten wir Niklas Frank im Rahmen der Aktionswoche "Hattingen hat Haltung" zu Gast. Das war für alle ein sehr bewegender Abend.

Wie sieht für Sie gelebte Demokratie aus?
Für mich ist gelebte Demokratie, mit Freunden, Bekannten und auch der Familie Meinungen und Standpunkte auszutauschen. Man muss dabei kontrovers diskutieren können, ohne sich gleich zu entzweien. Dazu gehört es, verschiedene thematische Sichtweisen auch nebeneinanderstehen zulassen. Ich glaube, das ist etwas, was in den letzten Jahren ein Stückchen gelitten hat.

Wir haben in einem Gesprächskreis darüber diskutiert, ob die Demokratie Streitkultur braucht. Fast alle sagten, dass früher im privaten Raum sehr viel stärker diskutiert wurde – auch über gesellschaftspolitische Themen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, sich bei Unrichtigkeiten einzumischen, also Stellung zu beziehen, nicht wegzugucken und sich wegzuducken. Der dritte Punkt ist für mich Toleranz. Menschen sind unterschiedlich, sie denken unterschiedlich. Es gehört dazu, sich selbst zu hinterfragen, nicht immer davon auszugehen, die eigene Meinung sei die einzig richtige. Demokratie muss unterschiedlichen Meinungen aushalten können – sozusagen stehen lassen können. Man muss die Ideen und Vorstellungen von anderen nicht teilen, aber eben aushalten können.

Was ist der Nutzen von "Ein KICK für Hattingen"?
Für mich ist es wichtig, demokratische Werte auch bei älteren Menschen zu stärken. Es gibt viele Angebote für die Zielgruppe Jugend, aber gerade aufgrund der demografischen Entwicklung sollten wir da nicht die Seniorinnen und Senioren aus den Augen verlieren.

Es geht zudem nicht nur darum sich eine Meinung zu bilden, sondern diese auch zu überprüfen. Unsere Teilnehmenden sind zwischen Mitte 60 bis Ende 80. Und ich freue mich, wenn in den Abschlussrunden jemand sagt: "Mensch, so habe ich das noch gar nicht gesehen, interessante Diskussion – da muss ich nochmal drüber nachdenken." Es gibt aber noch einen zweiten, ganz wesentlichen Punkt. Etliche der Teilnehmenden sind alleinstehend in dem Alter oder haben Freunde und Bekannte verloren. Der Kreis, mit dem man sich austauschen kann, wird kleiner. Insofern hilft das Projekt auch gegen die zunehmende Vereinsamung, alle wollen in Kontakt mit anderen Menschen sein und wir bieten die Möglichkeit, neue Verbindungen zu schaffen.

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter?
Unsere gesellschaftspolitischen Gesprächskreise sind ein wichtiger Bestandteil von "Ein KICK für Hattingen" und mittlerweile etabliert. Wir werden sie – vorausgesetzt die pandemische Lage lässt es zu – monatlich weiterführen. Darüber hinaus habe ich eine Biografiereihe geplant, in der kleine Gruppen mit nicht mehr als vier bis fünf Teilnehmenden sich austauschen können. Das Thema ist: Inwiefern bestimmen die Wurzeln unseren Lebensweg? Angedacht ist auch, dazu Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zusammenzubringen. Auf jeden Fall soll es wieder ein oder zwei größere Veranstaltungen geben – eine Lesung oder Diskussion zu einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema. Ideen gibt es schon! Wie immer stellt sich erst einmal die Frage der Finanzierung. "Ein KICK für Hattingen" macht als Initiative Bürgerschaftlichen Engagements auf jeden Fall weiter.


Veröffentlicht im Dezember 2021