Blick auf mehrere Etagen einer modernen Bibliothek, auf denen einige Menschen stehen

"Bildung tut meistens auch ein bisschen weh" – Sensibilisierung für Rassismus im Lehramtsstudium

Das Modellprojekt "Vielfalt bildet!" entwickelt an der TU Darmstadt Angebote, um Lehramtsstudierende für Rassismus zu sensibilisieren.

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Das Modellprojekt "Vielfalt bildet! Rassismuskritische Bildungsarbeit gemeinsam gestalten" möchte Lehramtsstudierende an der Technischen Universität Darmstadt für Rassismus an Schulen und Universitäten sensibilisieren. Bei der Entwicklung entsprechender Bildungsangebote arbeitet es mit zivilgesellschaftlichen Selbstorganisationen zusammen. Im Interview sprechen die Projektleiterin Dr. Olga Zitzelsberger und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Tatjana Kasatschenko über den Gewinn dieser Zusammenarbeit, die Folgen von Diskriminierung im Schulunterricht und die Reaktionen auf das Projekt.

Können Sie das Feld beschreiben, in dem Sie für das Projekt forschen?
Dr. Olga Zitzelsberger: Unser Forschungsprojekt "Rassismuskritische Bildungsarbeit gemeinsam gestalten" hat sich aus drei Strängen konzipiert: Der erste sind Agierende der Zivilgesellschaft im Bereich einer rassismuskritischen Bildungsarbeit wie der Landesverband der Sinti und Roma und Selbstorganisationen von Migrantinnen. Der zweite ist die Lehramtsausbildung und die Pädagogikstudiengänge an der Technischen Universität Darmstadt. Der dritte sind Schulen, wo wir unter anderem mit der berufsbildenden Heinrich Emmanuel-Merck-Schule und dem Schuldorf Bergstraße (Gesamtschule) kooperieren.

Wir wollen deutlich machen: Es geht nicht darum, dass die Universität sagt, was richtig ist oder falsch. Das ganz wesentliche Element ist, dass wir Strukturen in dem Projekt schaffen, wo sich die Menschen, die Institutionen auf Augenhöhe begegnen, bisherige Wissensbestände kritisch reflektieren und gemeinsam in Bildungskonzepte überführen.

In der Projektbeschreibung heißt es: "Hochschulen, als Bildungsinstitutionen mit einer Unterrepräsentation von People of Color und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, haben als vergesellschaftete Institutionen Teil an der strukturellen Reproduktion von Rassismus und sozialer Ungleichheit." Können Sie Beispiele geben, wie sich dies konkret äußert?
Dr. Olga Zitzelsberger: Ein ganz wichtiges Beispiel ist Wissensproduktion und Wissensreproduktion. Die klassischen Stimmen der Pädagogik, wie etwa Kant oder Rousseau, sind durchdrungen von einer systematischen Abwertung des weiblichen Geschlechts einerseits und von außereuropäischen Bevölkerungsgruppen andererseits. In den Wissensbeständen der Pädagogik können wir bis hin zu aktuellen Ausarbeitungen immer wieder Publizierende finden, bei denen diese Abwertung in den theoretischen Konzepten ihren Niederschlag gefunden hat.

Die Unterpräsenz von bestimmten Studierendengruppen reproduziert sich zudem auch in der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeitenden, und auch auf der Ebene der Lehrstuhlinhabenden. In der Art und Weise, wie hier ein Studiengang organisiert wird, wie Wissen vermittelt wird, gibt es strukturelle Diskriminierungsaspekte.

Lässt sich prozentual angeben, wie es mit dieser Unterrepräsentierung aussieht im Vergleich zur Gesamtgesellschaft?
Dr. Olga Zitzelsberger: In der bundesrepublikanischen Gesamtbevölkerung haben wir ungefähr 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Im Bachelor-Pädagogikstudiengang haben wir auch ungefähr 30 Prozent Studierende mit Migrationshintergrundgeschichte. Wenn wir uns aber das gymnasiale Lehramt ansehen, sind es unter 10 Prozent.

Tatjana Kasatschenko:  Von allen jungen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ist der Anteil derer, die sich im Jahr 2005 in einem Studium befunden haben, 9 Prozent. Wenn man sich das Lehramt anguckt, dann ist es dort auch eine Minderheit an Studierenden mit Migrationsgeschichte im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.

Zur gesellschaftlichen Ausgangslage heißt es bei Ihnen, dass besonders in den Schulen noch der defizitorientierte Blick auf Migration dominieren würde. Wie wirkt sich das auf die Lernenden aus?
Tatjana Kasatschenko: Da haben wir zum einen die schulischen Leistungen: Wem traue ich überhaupt welche Leistung zu und fördere dann dementsprechend? Studien belegen am bundesdeutschen Raum, dass diese Leistungserwartung sich auf die tatsächliche Leistung enorm auswirkt, bei unserem Thema negativ. Ebenso, dass bei gleicher Leistung die unterschiedlichen Positionierungen auch zu unterschiedlichen Bewertungen führen, je nachdem ob sie von Lernenden mit mehrheitsdeutsch klingendem Namen ist oder mit 'migrantisch' klingendem Namen.

Ein anderes Thema ist Sprache. Es gibt Studien zur Gleichsetzung seitens Lehrkräften von einer nicht einwandfreien Beherrschung der deutschen Sprache mit grundsätzlicher Sprachunfähigkeit. Wer nicht perfekt Deutsch reden kann, kann auch nicht gut denken, um das ein bisschen plump runterzubrechen.

Gleichzeitig ist die Frage: Welche Schulkinder werden in Wissensbeständen in der Schule repräsentiert? Wenn Schwarze Schulkinder oder solche mit Migrationsgeschichte dargestellt werden, wie werden sie dargestellt? Bei Schulkindern of Color meistens im Kontext von Kinderarbeit in Indien, Entwicklungshilfe, Kindersoldaten auf dem Kontinent Afrika.

Wenn man das alles zusammennimmt, sind die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in der Schule auf der strukturellen und individuellen Ebene fatal. Die Schule und die darin Handelnden, und damit meinen wir insbesondere Lehrkräfte, haben einen enormen Einfluss, wie die weitere Biografie von diesen Kindern und Jugendlichen verläuft. Was für Wege versperrt werden oder was für Steine in den Weg gelegt werden, über die man erst mal auch zu klettern in der Lage sein muss.

Ein Aspekt des Projekts ist die Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Selbstorganisationen und generell mit den außeruniversitären Organisationen. Welche Einflüsse bringen diese in die universitäre Perspektive ein und was entsteht dadurch?
Tatjana Kasatschenko: Die Angebote werden gemeinsam entwickelt und umgesetzt, und jede Person, die mitwirkt, bringt sich auf unterschiedliche Weise mit Perspektive und Expertise ein. An der Hochschule haben wir oftmals die Realität, dass mehrheitsdeutsche Dozierende ohne Rassismuserfahrungen, ähnlich wie es bei Lehrkräften in der Schule der Fall ist, Lehrveranstaltungen zu Diskriminierung und Rassismus anbieten. Und diese sind dann öfter auch an mehrheitsdeutsche Studierende gerichtet.

Wir haben uns gefragt, wieso wir nicht diejenigen, die aktiv gegen Diskriminierung arbeiten, in die Frage involvieren, was denn wichtig wäre für angehende Lehrkräfte beim Thema Bildung und Diskriminierung. Sie haben eine Expertise, die die Uni einfach nicht leisten kann, aus der Beratungs- und Betroffenenarbeit beispielsweise. Die Perspektive auch aus einer Minderheit heraus ist ganz wichtig, weil das keine erwerbbare Kompetenz ist, aber den Umgang mit Thematiken um Diskriminierung, Benachteiligung oder eben auch Privilegierung verändert.

Wie sind die Rückmeldungen von denen, die bei den entsprechenden Lehrveranstaltungen und anderen Veranstaltungen teilnehmen?
Tatjana Kasatschenko: Zu den regulären Lehrveranstaltungen habe ich öfter gehört, dass das fast schon unangenehm ist, festzustellen, dass man ganz lange über etwas nicht nachgedacht hat und nicht hinterfragt hat. Deswegen sind die Veranstaltungen aber auch sehr, sehr bereichernd. Es gibt aber auch Distanzierung, etwa "Nein, ich will damit nichts zu tun haben, die Welt ist schön und bunt und fertig. Denn mir geht’s gut und ich will mich mit dem Leid anderer nicht beschäftigen." Und bei den anderen, freiwilligen Angeboten: Wir machen regelmäßig Umfragen, und die Angebote werden zu 99 Prozent als sehr gut/ausgezeichnet bewertet.

Dr. Olga Zitzelsberger: Regelmäßig kommen von den Studierenden Rückmeldungen, "Das müsste curricular verankert werden. Das darf nicht nur ein Wahlpflichtmodul sein. Das ist eigentlich die Grundlage meiner pädagogischen Arbeit, dass ich selber weiß, welche Positionierung habe ich in der Gesellschaft, und wie können wir produktiv miteinander interagieren." Und ganz klar, Bildung tut meistens auch ein bisschen weh. Der größte Bildungserfolg entsteht dann, wenn ich zunächst auch ein bisschen Widerstand habe. Und diese Veranstaltungen, die wir an der Universität hier initiieren, die irritieren, und dadurch sind sie auch für die Studierenden so wertvoll.


Veröffentlicht im März 2022

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